Zur Edition Bachs Toccata

 

Lässt sich ernsthaft behaupten, über Toccata und Fuge d-Moll, BWV 565, über das bekannteste, über das populärste Orgelwerk noch etwas Neues sagen zu können?

 

Alles begann mit der Entdeckung, wie der in der ältesten Handschrift nur unvollständig überlieferte Takt 72 zu ergänzen war. Die Lösung stellte sich als denkbar einfach heraus. Es bleibt ein Mysterium, wieso sie über 200 Jahre unentdeckt blieb.

 

Alle weiteren erhaltenen Abschriften sind mindestens 50 Jahre später entstanden. Der restaurierte Takt 72 beweist, dass sie Kopien dieser ältesten Handschrift oder ihrer verschollenen Vorlage sein müssen, denn alle sahen sich mit dem Problem der Vervollständigung konfrontiert, lösten es aber nicht richtig.

 

Die älteste Handschrift ist die Abschrift einer verschollenen Vorlage, die nicht das Autograph war. Sie ist ausserdem als einzige Primärquelle anzusehen, alle weiteren Abschriften zu Sekundärquellen. Deren Abweichungen sind daher sämtlich dem Gutdünken der Kopisten zuzuschreiben. Alle bisherigen Ausgaben folgen jedoch mehr oder weniger den Sekundärquellen, sie messen die Primärquelle an diesen und nicht umgekehrt.

 

Der einzige Hinweis auf Johann Sebastian Bach als Autor ist die Titelseite der ältesten Abschrift. Die allerdings verfasste nicht der Kopist des Werkes, sondern jemand, der weder Notationskonventionen, noch das Werk kannte.

 

Der am Titel angeführte Kopist Johannes Ringk kann nicht der Verfasser der Kopie gewesen sein, denn seine Handschrift unterscheidet sich in allen Merkmalen. Vielmehr dürfte die Signatur „Scrips[it] Johannes Ringk“ lediglich mit kopiert worden sein.

 

Die Zuschreibung „di J. S. Bach“ bleibt zweifelhaft. Der Komponistenname wurde lediglich kopiert und kopiert. Selbst Adolf Bernhard Marx, der 1833 das Werk herausgab, gab seine Zweifel an der Autorschaft Bachs mehrmals öffentlich kund.

 

Die Forschung ordnet das Werk in die Jugendzeit Johann Sebastian Bachs in das erste Jahrzehnt des 18. Jahrhunderts ein. Merkmale, die im Vergleich mit Bachs sonstigem Schaffen auffällige Verschiedenheit zeigen, werden mit jugendlicher Unerfahrenheit erklärt.

 

Die Analyse auf der Basis der Tonhöhen stellte sich überraschend als Schlüssel heraus, wie das Werk tatsächlich komponiert wurde. Alle 143 Takte sind in motivisch-thematischer Arbeit komponiert. Diese Kompositionstechnik erscheint erstmals definiert im Musiklexikon von Heinrich Christoph Koch von 1802, entgegengesetzt zur polyphonen Schreibart. Das Werk ist alles andere als unerfahren verfasst.

 

Die Tonhöhenanalyse vermag auch aufzuzeigen, dass wohlgemeinte Verbesserungen in den Sekundärquellen motivisch-thematische Elemente eliminieren. Der Notenband der Edition gibt der Primärquelle den Vorzug und darf daher als möglichst nahe zum Original gelten.

 

Der Textband erläutert mit detaillierten Notenbeispielen schrittweise die zugrunde liegende motivisch-thematische Arbeit.

 

Recherche in historischen Zeitschriften führte zu weiteren Erkenntnissen. Als instrumentales Umfeld stellte sich die Wagner-Orgel der Berliner Marienkirche heraus, sowie auch die erste Hausorgel von Prinzessin Anna Amalia von Preußen im Berliner Schloss. Letzteres Instrument befindet sich heute in der Kirche zur frohen Botschaft in Berlin-Karlshorst.

 

Zuletzt lassen deutliche motivische Parallelen in Claviersonaten von Carl Philipp Emanuel Bach ihn als wahrscheinlichsten Komponisten erkennen.

 

Ich freue mich sehr, nach mehrjähriger Forschung nunmehr diese Edition vorlegen zu können.

 

 

Wien, im Dezember 2022     Michael Gailit